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Zwischen Schlagzeilen und Stigmabewältigung – Wie soll journalistische Berichterstattung über psychische Erkrankungen aussehen?

Aus Filmen und Serien kennt man den Stereotyp des psychisch kranken Gewaltverbrechers nur zu gut – doch auch in der journalistischen Berichterstattung über psychische Erkrankungen taucht das Vorurteil, Betroffene seinen besonders gewaltbereit, immer wieder auf. Mental-Health-Fürsprecher:innen und Psycholog:innen werfen Journalist:innen deshalb vor, die Berichterstattung sei zu reißerisch, sensationsheischend und fernab der Realität. Wie kann ausgewogener berichtet werden und was können Journalist:innen von Betroffenen, die eigene Kanäle betreiben, lernen?

Die Amokfahrt am Berliner Kurfürstendamm sorgte im Juni 2022 für Schlagzeilen in deutschen Medien. Im Juni 2022 steuerte ein Mann sein Fahrzeug in eine Menschenansammlung auf dem Bürgersteig. Eine Frau starb, vierzehn weiter Personen wurden schwer verletzt.

Schon kurz nach der Tat sickerte die Information durch die Medien, der 29-jährige Täter sei psychisch krank gewesen. Die Welt schrieb schon am darauffolgenden Tag von vergangenen Klinikaufenthalten und über eine mutmaßliche paranoide Schizophrenie des Täters. „Wie die Gesellschaft sich vor schizophrenen Tätern schützen kann“ lautete eine andere Schlagzeile des Nachrichtendiensts T-Online.

Es kommt häufig vor, dass über psychische Erkrankungen in Zusammenhang mit einer Straftat berichtet wird. Psycholog:innen und Betroffene von psychischen Erkrankungen äußern seit längerem Kritik an dieser Art und Weise der Berichterstattung.

Psychische Erkrankungen allein sind kein ausschlaggebender Faktor für gewalttätiges Verhalten und statistisch gesehen ist es viel wahrscheinlicher, dass eine psychisch kranke Person Opfer eines Verbrechens wird, als umgekehrt. Stimmen aus der Mental-Health-Community sowie Fachleute befürchten, dass durch diesen Fokus der Berichterstattung, Stigmata um psychische Erkrankungen weiter reproduziert werden. Artikel, in denen Betroffene selbst zu Wort kommen, oder in denen über Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten berichtet werden, kommen dagegen oft zu kurz (siehe auch: Psychische Erkrankungen im Journalismus – Der Forschungsstand).

Was genau muss sich also an Berichterstattung über psychische Erkrankungen ändern und welche Verantwortung tragen Journalist:innen?

Mandy Fleer ist ehrenamtliche Redakteurin beim Projekt Locating your Soul. Sie und fünfzehn weitere kreative Köpfe, die zum Team gehören, haben es sich zur Aufgabe gemacht, psychischer Erkrankungen zu entstigmatisieren. Deshalb berichten sie auf ihrer Plattform über die verschiedensten Themen rund um psychische Erkrankungen. Dazu gehören unter anderem Erfahrungsberichte, Interviews mit Expert:innen, Buchrezensionen oder klassische Faktenberichte über Themen wie Psychopharmaka und Therapieangebote. Initiiert wurde Locating your Soul vom Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V.

Die Redaktion von Locating your Soul hat es sich zu Aufgabe gemacht über psychische Erkrankungen aufzuklären

Das Projekt ist seit 2020 aktiv. Mandy ist seit Beginn in der Redaktion mit dabei. „Ich hatte vorher schon mal für den Bundesverband Rezensionen verfasst. Die hatten auf ihrer eigenen Website schon einmal angefangen, für junge Leute Beiträge zu erstellen. Dabei ging es um Rezensionen für Bücher, Filme, Serien und Musik, wo es um psychische Erkrankungen geht. Als dann Locating your Soul entstanden ist, hatte die Projektleiterin mich gefragt, ob ich da nicht Lust draufhätte.“

Mandy engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich, um über psychische Erkrankungen aufzuklären
©Mandy Fleer

Hauptberuflich ist Mandy in der Pressearbeit tätig und so auch über ihr Ehrenamt hinaus mit journalistischem Arbeiten vertraut. Zwar ist das kleine Redaktionsteam von Locating your Soul nicht mit großen Fischen in der Medien-Branche vergleichbar und hat im Gegensatz zu diesen auch den alleinigen Fokus über psychische Erkrankungen zu berichten und aufzuklären. Dennoch: können Berufsjournalist:innen großer Nachrichtenredaktionen dennoch etwas von Formaten wie Locating your Soul lernen?

Stereotype und Stigma

Ein großes Problem, das Mandy an der journalistischen Berichterstattung über psychische Erkrankungen sieht, ist dass diese oft sehr einseitig seien. „Man sucht sich oft gezielt bestimmte Stereotype heraus, die dann generalisiert auf ein ganzes Krankheitsbild übertragen werden.“ Auch wie über Straftaten berichtet wird, die von Menschen mit psychischen Erkrankungen begangen werden, findet Mandy kritisch.

Doch wie geht man als Journalist:in mit Ereignissen, wie die Amokfahrt am Berliner Ku’Damm oder dem Anschlag in Hanau um? Wie kann ausgewogene Berichterstattung gelingen, die über alle Fakten informiert und trotzdem keine Stigmata über psychische Erkrankungen reproduziert?

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Nach dem rassistisch-motivierten Anschlag in Hanau führte die Taz ein Interview mit der Psychiaterin Nahlah Saimeh. In Zusammenhang mit dem Anschlag wurde öffentlich viel darüber diskutiert, ob die psychische Erkrankung des Täters zu der schrecklichen Tat geführt habe. Nalah Saimeh sprach mit der Taz dagegen darüber, dass Terroristen meist nicht psychisch krank seien. Darüber hinaus gab sie eine wissenschaftliche Einordnung dazu, inwiefern die Erkrankung des Täters in Hanau mit dem Anschlag in Verbindung stand.

Auch die Zeit veröffentlichte, nachdem im Jahr 2018 ein Mann in eine Menschenmenge in Münster fuhr und medial über seinen psychischen Zustand spekuliert wurde, einen Artikel mit dem Titel „Psychisch labil, was soll das bedeuten?“ Der Autor kritisierte dabei Kolleg:innen anderer Zeitungen und Politiker:innen die die mutmaßliche psychische Erkrankungen des Täters als Grund für die Tat nannten. Er wies außerdem darauf hin, dass eine psychische Erkrankung allein kein gewalttätiges Verhalten implizieren würde.

Beispiele wie diese zeigen, dass es möglich ist, Ereignisse differenziert zu betrachten, indem Expert:innen befragt, Hintergründe erklärt und keine pauschalisierten Aussagen getroffen werden, die Betroffenen von psychischen Erkrankungen gefährliches Verhalten und Gewaltbereitschaft unterstellen

Die eigene Betroffenheit als Chance oder Hindernis?

Einige der Redakteur:innen von Locating your Soul sind selbst Betroffene einer psychischen Erkrankung. Zu ihnen gehört auch Mandy. In ihren Artikeln bringt sie ihre eigenen Erfahrungen manchmal mit ein. Das ist aber kein Muss. „Es ist natürlich schön, wenn man seine eigenen Erfahrung miteinbringen kann, wenn es passt, aber andere Perspektiven oder Meinungen von Fachleuten zu bekommen und die darstellen zu können ist einfach auch sehr spannend.“

Mandy sieht es nicht als Hindernis, dass sie selbst betroffen ist. Im Gegenteil. Sie sieht darin eher eine Chance, dafür besonders sensibel über psychische Erkrankungen zu berichte. „Ich habe schon das Gefühl, dass Betroffene in Bezug darauf sehr empathisch sind.“ Die eigene Betroffenheit sensibilisiere einen auch für das Stigma, das um psychische Erkrankungen noch immer herrscht und hilft dabei, bedacht bei der Wortwahl vorzugehen.

Der Ton macht die Musik

Den Ton, den Journalist:innen wählen, um über psychische Erkrankungen zu sprechen, findet Mandy nämlich oft als problematisch. Häufig werde versucht, mit reißerischen Schlagzeilen Klicks und Aufmerksamkeit zu generieren. „Manchmal sind Artikel eigentlich gut, aber damit sie geklickt werden, sind die Überschriften dann so schlimm, dass man sich denkt, ‚toll, dass ihr eigentlich den Ansatz habt Anti-Stigma-Arbeit zu leisten, aber damit habt ihr es komplett kaputt gemacht‘.“

Mandy findet außerdem, dass die Darstellung von verschiedenen Krankheitsbildern meist sehr einseitig ist. Oft werde gezielt nach bestimmten Klischees und Stereotypen über eine Erkrankung gesucht. Die Redaktion von Locating Your Soul versucht eben das durch verschiedene Stimmen und Perspektiven anders zu machen.

Ist man selbst betroffen von einer psychischen Erkrankung, kann es trotzdem passieren, dass man gewissen Themen gegenüber voreingenommen ist. „Gerade, wenn man zum Beispiel schlecht Erfahrungen mit einem Therapeuten gemacht hat, ist es wahrscheinlich schon schwieriger darüber zu schreiben. Oder wenn man schon seit Jahren an etwas erkrankt ist, ist es glaube ich schwierig sachlich über etwas Behandlungs- und Heilungschancen zu schreiben.“

Triggerwarnung – wann sind sie angemessen?

Apropos Wortwahl – wie sollte man in journalistischer Berichterstattung mit Triggerwahrungen umgehen? „Wir nutzen Triggerwarnung . Allerdings finde ich auch, dass es die Themen mehr tabuisiert werden, wenn man allem eine Triggerwarnung vorsetzt.“ In der Redaktion von Locating your Soul wird deshalb gut überlegt und beraten, wo Triggerwarnung angemessen sind und wo nicht.

Der Begriff Trigger beschreibt in der Psychologie eigentlich einen Reiz, der bei Menschen mit post-traumatischer Belastungsstörung sogenannte Flashbacks auslösen kann und dafür sorgt, dass sie an ihr traumatisches Erlebnis erinnert werden oder mental in die Situation zurückversetzt werden. Gerade bei Themen, die sich um sexuelle Übergriffe und Missbrauch oder andere psychische oder physische Gewalt drehen, gelten Trigger-Wahnrungen deshalb auch als sinnvoll.

Über sensible Inhalte berichten – Werther vs. Papageno-Effekt

Der Werther-Effekt wird häufig angeführt, wenn über die mediale Berichterstattung zu Suiziden diskutiert wird. Der Begriff geht auf ein Phänomen aus dem 18. Jahrhundert zurück, wo nach der Veröffentlichung Goethes Die Leiden des jungen Werthers plötzlich Zahlreiche den Suizid des Protagonisten nachahmten. Nach Annahme des Werther-Effekts kann die Art und Weise, wie medial über Suizide berichtet wird, andere zu Nachahmungstaten verleiten.

„Eigentlich würde ich denken, wenn das nicht so ein Tabu-Thema wäre, wäre es für die meisten Betroffenen einfacher sich jemandem anzuvertrauen und sich Hilfe zu suchen, weil man weiß es geht nicht nur mir so und es gibt Hilfe. Deshalb fände ich es wichtig, dass darüber mehr gesprochen wird. Aber immer auch in Verbindung mit Hilfsangeboten“

Das meint Mandy dazu. In der Sozialpsychologie spricht man dabei vom Papageno-Effekt, der als Gegenphänomen zum Werther-Effekt gilt. Demnach kann Berichterstattung über Suizide diese sogar verhindern. Voraussetzung dafür ist, dass die Artikel auf Hilfeangebote verweisen und Betroffenen Vorschläge anbieten, wie sie mit einer Krisensituation umgehen gehen können. Dagegen sollten Artikel darauf verzichten, die Suizidhandlung detailliert zu beschreiben.

Die Redaktion von Locating your Soul geht mit schweren Themen folgendermaßen um: „Wir versuchen auch immer zu schauen, dass die Texte und Beiträge irgendeinen positiven Mehrwert haben. Nicht dass jeder Text positiv sein muss oder beschönigt, auf keinen Fall. Aber wenn in einem Text nur negative Gedanken rausgehauen werden, ist das nicht Sinn unserer Redaktion.“

Wie viel Verantwortung und Schuld tragen journalistische Medien am Stigma um psychische Erkrankungen?

„Ich würde sagen, journalistische Medien sind eher schuld daran, dass das Stigma aufrechterhalten wird. Dass das überhaupt entstanden ist, liegt eher an der Vergangenheit. Aber dadurch, dass sie das immer wieder reproduzieren, bleibt das Bild ja in den Köpfen und festigt sich“, meint Mandy.

Zu den Aufgaben journalistischer Medien gehört es, über gesellschaftlich relevante Themen ausgewogen zu informieren. Da in Deutschland jedes Jahr rund jeder vierte Erwachsene betroffen ist, so die Statistik der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, zählen psychische Erkrankungen und ihre Behandlung auch zu den Themen, die für die Gesamtbevölkerung relevant sind.

Impulse für Journalist:innen – den Menschen sehen und nicht nur die Erkrankung

Was würde Mandy Fleer anderen Journalist:innen mitgeben, die über psychische Erkrankungen schreiben möchten? Psychische Erkrankungen sollten nicht immer nur in Zusammenhang mit Straftäter:innen genannt werden und journalistische Medien sollten ein vielfältigeres Bild von Erkrankungen zeichnen. Auch die Wortwahl dabei müsste sich ihrer Meinung nach ändern. „Eigentlich denke ich, ist das gar nicht so schwierig. Man bräuchte nur ein oder zwei Sätze in einem Text hinzufügen und sagen: Das ist die Geschichte von dieser Person und das bedeutet aber nicht, dass es für alle anderen gleich ist.“ Mandy würde Journalist:innen außerdem raten, in ihren Recherchen zu Krankheitsbildern, mit Betroffenen zu sprechen. „Man sollte versuchen, ihnen ohne Vorurteile zuzuhören, sich auf das Gespräch mit ihnen und deren Gedanken und Gefühle einzulassen und dabei den Menschen zu sehen nicht nur die Erkrankung.“

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