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Psychische Erkrankungen auf Social Media – Der Forschungsstand

Twitter, YouTube, Instagram, TikTok. Die Möglichkeiten, Inhalte im Internet zu konsumieren und zu produzieren, erscheinen dank Social Media mittlerweile grenzenlos. Im Jahr 2022 kann jeder und jede mit einem Smartphone und Internetzugriff selbst zum:r Content-Creator:in werden. Das Netz ist voll mit Informationen, Meinungen, Ratschlägen und Anleitungen zu sämtlichen Themen und Interessensgebieten. Auch auf Social Media sind in diesem Zuge neue Darstellungsformen rund um das Thema psychische Erkrankungen entstanden.

Der Hashtag #mentalhealth zählt im Sommer 2022 auf Instagram um die 39,5 Millionen Follower. Unter den Beiträgen finden sich bunte Infografiken mit Titeln wie „Trauma and Eating Disorder“ oder „Saying I love you in ADHD“, inspirierende Zitate, Memes, Anleitungen für Meditations- und Atemübungen…Das Internet spricht über psychische Erkrankungen, und zwar nicht wenig.

Citizen-Journalism – was früher ein Privileg des Printjournalismus war, ist jetzt für die Allgemeinheit zugänglich?

Social-Media-Plattformen und ihre Popularität haben in den letzten Jahren ein Phänomen befeuert, das man auch als Citizen Journalism bezeichnet. Instagram, Twitter und Co. oder auch Blogging-Plattformen, geben im Grunde jedem die Möglichkeit, eigene Beiträge mit der Welt zu teilen. Was früher ein Privileg des Printjournalismus war, ist jetzt auch für die Allgemeinheit zugänglich.

Social-Media-Plattformen eröffnen neue Möglichkeiten, um über das Stigma um psychische Erkrankungen öffentlich zu diskutieren. Die Betreiber:innen der entsprechenden Kanälen sind oftmals selbst Betroffenen, Angehörige, Therapeut:innen oder Kollektive, in denen sich Fachpersonen und Betroffene zusammenschließen.

Wie in diesen Social-Media-Sphären über psychische Erkrankungen gesprochen wird, welche Themen adressiert werden und wie Nutzer:innen auf den Plattformen damit interagieren, war über die Jahre hinweg Gegenstand verschiedener kommunikationswissenschaftlicher und psychologischer Studien.

Wie kommunizieren Mental-Health-Fürsprecher:innen auf sozialen Medien?

Sarah Smith-Frigerio ist Kommunikationswissenschaftlerin und Dozentin an der University of Columbo. In ihrer Forschungsarbeit widmet sie sich der Social-Media-Kommunikation jener Akteure, die man auch als Mental Health Advocates bezeichnt. Dazu zählen zum Beispiel einzelne Betroffene oder auch ganze Kollektive und Organisationen, die Aufklärungsarbeit über psychische Erkrankungen leisten und sich als öffentliche Stimmen für Menschen mit psychischen Erkrankungen positionieren. Im Zuge einer Inhaltsanalyse, in der Smith-Frigerio die Social-Media-Profile zweier Mental-Health-Kollektive untersucht hat, konnte sie verschiedene Kommunikationsstrategien identifizieren, mit denen Mental Health Advocates versuchen, dem öffentlichen Stigma entgegenzuwirken.

Mental Health Advocates bereiten auf Social Media beispielsweise Fachinformationen aus der Psychologie, zu Behandlungsoptionen und Symptomen verschiedener Krankheitsbilder, anschaulich auf. Auch Erfahrungsberichte von Betroffenen greifen sie auf, meist mit der Intention anderen Betroffenen Hoffnung zu spenden und sie für ihren eignen Therapieprozess zu motivieren. Außerdem steht der Community-Aspekt im Vordergrund. Betroffene haben so die Chance, sich mit ihrer gesellschaftlich stigmatisierten Diagnose nicht länger allein zu fühlen. Die Anonymität des Internets bietet in diesem Fall ein geschütztes Umfeld, in welchem Betroffene an Informationen gelangen können, ohne sich ihrem Umfeld anvertrauen zu müssen. Denn für viele Betroffene ist das kein leichter Schritt, der durch das Stigma um psychische Erkrankungen ebenfalls erschwert werden kann.

Können Social-Media-Kanäle, den stereotypen und stigmatisierenden Narrativen in klassischen Medieninhalten entgegenwirken?

Passend dazu hat eine fachübergreifende Studie im Jahr 2019 Unterschiede in der Darstellung psychischer Erkrankungen auf Social Media und im traditionellen Printjournalismus untersucht. Dafür haben sich Wissenschaftler:innen aus dem Bereich der Psychologie, der Publizistik der Sozialen Arbeit zusammengeschlossen. In der Studie haben die Forschenden Inhalte, die von professionellen Journalist:innen produziert wurden, mit Beiträgen von Mental Health Advocates auf Social Media verglichen.

Die Ergebnisse dieser Studie haben gezeigt, dass der professionellen Journalismus deutlich häufiger stereotype Narrative verwendet. Währenddessen kamen Betroffene in den Beiträgen der Mental Health Advocates selbst zu Wort. Sie konnten ihre Perspektive mit dem Publikum teilen und Einblicke in ihr alltägliches Leben mit ihrer Erkrankung geben. Zwar wurde im professionellen Journalismus auch häufig das Thema Therapie- und Heilungsprozess angesprochen, jedoch lag der Fokus häufig auf den Institutionen und Therapieeinrichtungen. Expert:innen kamen dort deutlich häufiger zu Wort als Betroffene selbst.

Die Forschenden zogen aus ihren Ergebnissen die Schlüsse, dass der Citizen Journalism auf sozialen Medien eine Tür dafür öffnet, die Medienlandschaft in Bezug auf psychische Erkrankungen diverser zu gestalten. Auch die WHO setzt Hoffnung in die Arbeit von Mental Health Advocats und unabhängige Organisationen und sieht hierin eine Chance, das gesellschaftliche Stigma um psychische Erkrankungen aufzubrechen und neue Angebote für Betroffene zu schaffen.

Gefährliche Communites auf sozialen Medien?

Bei allen positiven Neuerungen, die soziale Medien laut dieser Studien und Expert:innen-Meinungen für die mediale Darstellung psychischer Krankheiten mit sich bringen, sind allerdings auch nicht alle Inhalte, die dort zum Thema zu finden sind, ganz und gar unproblematisch. Über Fehlinformationen, die sich auf sozialen Medien schnell verbreiten, wird öffentlich generell diskutiert. Auch in online Sphären, in denen über psychische Erkrankungen gesprochen wird, ist das ein Problem. Dadurch können gefährliche Dynamiken entstehen, die für eine vulnerable Gruppe, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit Risiken verbunden sind.

Ein Beispiel für problematische Online-Communites ist die Pro-Ana-Bewegung. Mitglieder der Bewegung lehnen die Diagnose von Anorexie als eine psychische Erkrankung ab. Sie verstehen Anorexie als Form eines selbstgewählten Lebensstils und verweigern sich folglich einer Therapie. Pro-Ana Websites gibt es seit den 1990er Jahren. Mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke haben auch Pro-Ana-Communites die Plattformen für sich entdeckt und veröffentlichen dort Beiträge.

Beiträge der Pro-Ana-Bewegung auf Social Media: „thinspiration“ und Diät-Challenges

In der Psychologie wird die Pro-Ana-Bewegung als gefährlich für Betroffene einer Esstörung eingestuft. Aus diesem Grund haben sich verschiedene Studien mit diesen Inhalten Social Media befasst. Die Kommunikationswissenschaftlerinnen Debbie Ging und Sarah Garvey haben sich 2018 in einer Inhaltsanalyse mit Beiträgen der Pro-Ana-Bewegung auf Instagram auseinandergesetzt. Die Autorinnen konnten 8 verschiedene Kategorien von Pro-Ana-Content auf Instagram identifizieren. Dazu gehören zum Beispiel sogenannte „thinspirations“ unter denen User:innen Körper von sehr dünnen Frauen teilen, die ihnen zur Inspiration dienen Gewicht zu verlieren. Außerdem teilen User:innen Aufrufe, in denen sie ihre Follower:innen bitten, unter dem Beitrag Lebensmittel zu kommentieren, auf die sie mehrere Tage verzichten sollen. Selbstverletzung, Depressionen und Suizidgedanken tauchen in den Beiträgen der Pro-Ana-Bewegung ebenfalls auf.

Die Informatikexpertin und Dozentin an der Georgia Tech, Munmun De Choudhhury, befasst sie sich in ihrer Forschung vor allem mit computergestützten Analysen gesellschaftlicher Diskurse. In ihrer Publikation aus dem Jahr 2015 hat sie sich mit Pro-Ana- und Pro-Recovery-Bewegungen auf Tumblr befasst und dafür untersucht, welche kognitiven, verhaltensbezogenen, affektiven und linguistischen Merkmale, für die jeweiligen Beiträge auf Tumblr charakteristisch sind. Choudhury konnte feststellen, dass Pro-Ana-Beiträge auf Tumblr deutlich häufiger geteilt werden. Diese waren zudem meistens auf negative Emotionen fixiert. Nutzer:innen sprachen unter anderem darüber, unzufrieden mit ihrem eigenen Körper zu sein.

Falsche Informationen und Banalisierung auf Social Media

2021 ist eine kanadische Studie erschienen, welche sich mit Inhalten über die Diagnose ADHS auf TikTok auseinandersetzt. Die Forschenden unterzogen die 100 populärsten Videos zum Thema ADHS einer Inhaltsanalyse. Sie konnten dadurch feststellen, dass über die Hälfte der Inhalte irreführende oder falsche Informationen über die Diagnose enthielt. Die Ersteller:innen dieser Videos beschrieben beispielsweise Symptome als spezifisch für eine ADHS Diagnose, obwohl diese auch bei anderen Krankheitsbildern zur Symptomatik zählen, so über generalisiert sind, dass daran allein kein Störungswert messbar wird.

Die Autor:innen der 2016 erschienenen Studie Tweeting and Trivializating argumentieren, dass Betroffenen dadurch, dass Krankheitsbilder auf sozialen Medien banalisiert werden, der Raum um ihre schmerzhaften Erlebnisse zu teilen genommen werde. Außerdem könnten Fehlinformationen, die auf sozialen Medien verbreitet werden, dafür sorgen, dass Betroffene es schwerer haben, sich Hilfe zu suchen. Die vielschichtigen Nuancen eines Krankheitsbildes werden dabei nämlich ignoriert, so die Autor:innen.

Soziale Medien als Stimmungsbarometer für den öffentlichen Diskurs?

Psychische Erkrankungen werden auf sozialen Medien häufiger durch banalisierende oder irreführende Aussagen stigmatisiert, als durch Narrative, die Betroffene als gewalttätig, unberechenbar oder kriminell darstellen. Das konnten Forschende 2022 im Zuge einer Analyse von Tweets zu Mental-Health-Themen feststellen. In diesem Sinne unterschieden sich Inhalte auf Social Media von klassischen Medieninhalten. Die Forschenden untersuchten über 600 Tweets, die von 2007 bis 2017 veröffentlicht wurden. So konnten sie 7  verschiedene Frames, bzw. Darstellungsweisen identifizieren, die auf Twitter verwendet wurden, um psychische Erkrankungen zu thematisieren. Twitter und andere Social-Media-Plattformen bieten im digitalen Zeitalte demnach eine Möglichkeit, Schlüsse auf öffentliche Meinungen und Einstellungen zu ziehen. So kann man einen Eindruck davon zu bekommen wie die Öffentlichkeit über Themen wie psychische Erkrankungen denkt.

Eine Beobachtung, die in der Studie gemacht werden konnte, ist des Twitter Nutzer:innen besonders häufig über psychische Erkrankungen sprechen, um öffentliches Bewusstsein zu schaffen und aufzuklären.  Nutzer:innen versuchten in diesem Zuge andere dafür zu motivieren, sich therapeutische Hilfe zu suchen, an gemeinnützige Organisationen zu spenden und dieses Bewusstsein für psychische Erkrankungen weiterzutragen.

Allerdings konnten die Forschenden auch feststellen, dass psychische Erkrankungen auf Twitter häufig banalisiert wurden. Im Zuge dessen teilten Nutzer:innen alltägliche Sorgen und Ängste. Der Diskurs um psychisches Wohlergehen bewegte sich jedoch auf einem sehr individualisierten und oberflächlichen Level. Das schlägt sich auch darin nieder, dass Nutzer:innen als Lösungsansätze für mental Probleme meist Wellnessprodukte, Self-Care oder Urlaubstrips nannten und weniger davon sprachen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Die Ergebnisse zeigten außerdem, dass mehr über Krankheitsbilder wie Depressionen und Angststörungen gesprochen wurde als über Störungen auf dem schizophrenen Spektrum oder neurokognitive Störungen wie Alzheimer. Die Forschenden zogen daraus, dass diese Krankheitsbilder weniger popularisieren als andere und deshalb seltener im Online-Diskurs auftauchen.

Forschung in Zukunft?

Das Internet ist ein schnelllebiger Ort und Inhalte auf sozialen Medien verändern sich stetig. Wie verschieden der hier vorgestellten Studienergebnisse zeigen, ist Social Media sowohl ein Werkzeug für Betroffene und Mental-Health-Fürsprecher:innen, um Bewusstsein zu schaffen und diverser über psychische Erkrankungen zu sprechen, als auch Nährboden für falsche Informationen und schädliche Communities. Wie sich Diskurse auf und mit Social-Media-Plattformen verändern und welche Chancen und Risiken sich dadurch ergeben, bleibt also Forschungsinteresse, für zahlreiche Studien, die dazu in Zukunft noch entstehen können.

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