Mental-Health-Blogger:innen kämpfen seit Jahren gegen das Stigma um psychische Erkrankungen und versuchen anderen durch ihre Erfahrungen Mut zu machen. Wie nimmt man den öffentlichen Diskurs über psychische Erkrankungen als betroffene:r Content-Creator:in wahr? Wie ist das, sich öffentlich verletzlich zu zeigen? Welche Verantwortung hat man als Content-Creator:in gegenüber anderen und ist Social Media der Safe-Space für Betroffene, den es im realen Leben selten gibt?
Mental-Health-Blogger:innen: Mit der eigenen Geschichte gegen das Stigma
Seit längerem teilen Betroffene deshalb ihre Erfahrungen online mit anderen. In Form von Blogs, Twitter-, Instagram- oder TikTok-Profilen erzählen sie ihre eigenen Geschichten, berichten von ihren Therapie-Erfahrungen, versuchen Mut zu machen, teilen Selbsthilfe Tipps oder klären über Vorurteile über ihre Erkrankungen auf.
Eine dieser Mental-Health-Blogger:innen ist Nora Fieling. Sie betreibt seit 2015 einen eigenen Blog, auf dem sie über ihre Erfahrungen mit Depressionen, einer Angststörung, Klinikaufenthalten und Psychotherapie spricht. Der Name Nora Fieling ist ein Pseudonym, das sie mittlerweile sogar als Künstlername in ihrem Personalausweis trägt.
Nora ist 37 Jahre alt. Seit ihrer Kindheit kämpft sie mit Ängsten, selbstverletzendem Verhalten und lebensmüden Gedanken. Bis hin zu einer Diagnose und der richtigen Therapie war es ein langer Weg. Erst als Nora bereits im Erwachsenenalter war, wurde eine Ärztin auf ihre Verletzungen aufmerksam und erkannte sie als das was sie sind. Darauf folgten verschiedene ambulante Therapien und Klinikaufenthalte. 2008 musste Nora auf Grund ihrer Erkrankung sogar ihr Studium der Sozialen Arbeit im 4.Semester abbrechen.
„Ich wollte das schreiben, was ich selbst gerne gelesen hätte“
2015 erhielt sie in einer Klinik die Diagnose der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung. Online fand Nora dazu kaum Berichte von Betroffenen. Auf Seiten mit Fachinformationen las sie immer wieder die gleichen Informationen. Aber wie sieht der Alltag einer betroffenen Person aus? Wie lebt sie ihr Leben mit den Symptomen der Erkrankung? Dazu wollte Nora gerne etwas erfahren, um so auch Parallelen zu ihrer eigenen Geschichte ziehen zu können. Da das Internet dazu nicht viel hergab beschloss sie, das selbst in die Hand zu nehmen. „Ich wollte das schreiben, was ich selbst gerne gelesen hätte“, sagt sie.
Mittlerweile ist die Diagnose der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung zwar wieder revidiert, Noras Blog ist jedoch geblieben.
Vom anonymen Blog zur erfolgreichen Plattform
„Das Ganze lief besser, als ich es mir je hätte vorstellen können“, meint Nora. Anfangs bloggte sie noch anonym, als jedoch immer mehr Anfragen eintrudeln und Nora sogar vom damaligen Spiegel Jugendformat Bento für ein Interview angefragt wird beschloss sie, auf ihrem Blog Gesicht zu zeigen. „Das war an Halloween. Alle anderen setzen ihre Masken auf und ich habe meine abgesetzt.“
Aus der Anonymität herauszutreten war für Nora kein einfacher Schritt. Man macht sich verletzlich, wenn man online über seine Erkrankung spricht. Hate-Kommentare und Cyber-Mobbing sind auf sozialen Medien generell ein Problem und das Stigma um psychische Erkrankungen existierte natürlich auch in der digitalen Welt. Und dann ist da auch noch Noras persönliches Umfeld. Wie werden sie auf Noras Blog reagieren?
„Mir fiel es tatsächlich leichter mit Wildfremden darüber zu sprechen als mit meinen nächsten Angehörigen. Man möchte sein Umfeld ja auch nicht ständig überfordern. Der Blog war für mich ein Raum wirklich ehrlich das zu schreiben, was ich denke und fühle, ohne meine nächsten Angehörigen zu belasten.“
Der Zuspruch, den sie auf dem Blog von anderen Betroffenen, Angehörigen und sogar von Fachpersonal erhält, stärkte ihr den Rücken. Hate-Kommentare und Belästigungen auf Social Media kennt Nora leider auch, allerdings überwiegen die positiven Aspekte, die ihr Kraft geben, deutlich.
Noras Blog ist gemeinsam mit ihr gewachsen
7 Jahre sind vergangen seit Nora ihr Blog-Projekt gestartet hat. Seitdem hat sich viel verändert. Nora ist in ihrem Therapie-Prozess weiter vorangekommen, besucht regelmäßig Selbsthilfegruppen und arbeitet mittlerweile sogar selbst mit anderen Betroffen, Angehörigen und Fachpersonal zusammen. Dafür hat sie die Fortbildung zur Ex-In Genesungsbegleiterin, Resilienztrainerin und Ersthelferin für psychische Krisen absolviert. Mit ihren eigenen Erfahrungen und dem Wissen, dass sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hat, unterstützt sie jetzt andere Betroffene auf ihrem Weg.
2020 hat der Stark-Sture Verlag Noras erstes Buch veröffentlicht. „Depressionen – und jetzt? Wegweiser einer Erfahrungsexpertin“ hilft Betroffenen und Angehörigen dabei einen persönlichen Umgang mit der Diagnose Depression zu finden. Neben grundlegenden Informationen zur Depression, Fachinterviews zu Themen wie genetische Ursachen, Psychopharmaka und Therapieverfahren, setzt Nora die Fachinformationen in einen persönlichen Bezug und gibt Einblick in ihre eigenen Erfahrungen. Außerdem gibt sie in ihrem Buch Inspiration zu Selbsthilfestrategien und Impulse für Angehörige, wie sie Betroffene unterstützen können. Für Nora ist das Buch ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist.
Noras Blog und ihre Arbeit auf Social Media sind zusammen mit ihr gewachsen. „Wenn ich mir meine alten Texte so anschaue, sehe ich, dass die schon sehr depressiv sind.“ Anfangs war der Blog für Nora eine Möglichkeit sich ihre Gefühle von der Seele zu schreiben. Da sie heute nur noch selten in akuten Notsituationen ist und sich ihre Symptome nicht mehr über einen langen Zeitraum hinweg äußern, hat sie auch nicht mehr das starke Bedürfnisse Momentaufnahmen ihrer Gefühlswelt auf dem Blog zu teilen. Trotzdem ist es ihr wichtig ihren Leser:innen zu zeigen, dass auch sie immer noch mit ihrer Erkrankung zu kämpfen hat und dass es ein langer und beschwerlicher Weg bis dahin war, wo sie jetzt steht.
Aufklärung mit einer Prise Humor
Neben persönlichen Einblicken in ihre eigenen Erfahrungen und Tipps, die ihr geholfen haben, betreibt Nora auf ihrem Blog und auf Instagram mittlerweile auch Aufklärungsarbeit. Sie spricht beispielsweise über Vorurteile gegenüber Suizidalität und Depressionen und klärt darüber auf, wie es wirklich ist mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Mit einer Prise Humor und Sarkasmus greift sie Aussagen auf, die Betroffene von psychischen Erkrankungen zwar oft zu hören bekommen jedoch alles andere als hilfreich sind.
Viele kleine Menschen, an vielen kleinen Orten, können das Gesicht der Welt verändern
Für Nora sind Mental-Health-Blogs und Social-Media Angebote eine Möglichkeit der Allgemeinheit bewusst zu machen, dass es eine Rolle spielt, wie wir mit Sprache umgehen. Begriffe wie „Klapsmühle“ oder ähnliches lehnt sie ab.
Im Gegensatz zu Medieninhalten wie Filme und Serien haben Angebote auf sozialen Medien das Potential Betroffenen eine Stimme zu geben. Gleichzeitig befürchte Nora, dass Vieles, was auf Social Media an Aufklärungsarbeit passiert, innerhalb einer Blase bleibt.
„Mit einem Account erreicht man zwar viele Betroffe. Aber es wäre toll, wenn wir auch Nicht-Betroffene erreichen würden, die sich mit den Themen auseinandersetzen müssten. Ich denke hierbei z.B. an Arbeitgeber:innen, Lehrkräfte oder natürlich auch Angehörige. Oftmals setzten sich Menschen aber nicht mit den Themen auseinander, weil es sie nicht interessiert oder weil sie keine Notwendigkeit dafür sehen. Trotzdem sehe ich einen Vorteil darin, dass diese Mental-Health-Bubble sich von innen stärkt und das nach außen getragen wird. Das durfte ich auch für mich selbst erleben. In meinem persönlichen und privaten Umfeld kann ich mittlerweile auch viel offener sprechen. So ziehen sich dann kleinere oder größere Kreise. Es gibt doch auch dieses Sprichwort ‚Viele kleine Menschen, an vielen kleinen Orten, können das Gesicht der Welt verändern‘.“
Seit Nora mit dem Bloggen 2015 angefangen hat, hat sich ihrer Meinung nach Einiges in der Online-Welt getan. Mehr Menschen nutzen das Internet, um über ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen zu sprechen und auch Fachpersonen, wie Therapeut:innen, betreiben Blogs und andere Kanäle, um ihr Wissen mit der Öffentlichkeit zu teilen.
„Ich setze die Grenzen für mich und kann aber auch damit umgehen, wenn sie mal überschritten werden“
Es kommt vor dass Menschen, die sich in einer Krise befinden, bei Nora online nach Rat und Hilfe suchen. Teilweise teilen sie auch traumatische Erlebnisse mit ihr. Für sie ist das oft nicht leicht, denn natürlich macht sie der Schmerz dieser Menschen betroffen. Manche Themen sind auch auf Grund ihrer eigenen Erlebnisse schwierig für sie. Wie schützt man als betroffene:r Content-Creator:in seine persönlichen Grenzen? „Ich thematisiere relativ häufig, dass ich kein Krisendienst bin und verweise auf fachliche Hilfsangebote. Auf meiner Website habe ich auch eine Liste mit Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisen, nach Bundesländern sortiert. Ich setze die Grenzen für mich und kann aber auch damit umgehen, wenn sie mal überschritten werden. Wenn ich aber in manchen Nachrichten schon bestimmte Stichworte lese, überfliege ich sie auch manchmal nur, weil es zu viel für mich ist und verweise direkt an Hilfsangebote.“
Wie sieht Nora ihre Verantwortungsrolle als Content-Creatorin im Mental Health Bereich?
„Ich bin der Meinung, dass Menschen, ganz egal ob sie nun eine Erkrankung haben oder nicht, erstmal für sich selbst verantwortlich sind. Gleichzeitig bin ich aber nicht frei von jeglicher Verantwortung. Damit meine ich, dass es meine Verantwortung ist, wie ich manche Dinge kommuniziere. Mir muss zum Beispiel auch klar sein, dass im Internet Kinder und Jugendliche Zugang zu meinen Texten haben.“ Problematisch findet Nora auch Accounts, auf denen selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche oder Verhaltensweisen einer Essstörung detailliert beschrieben werden. „Es ist hier eine Gradwanderung, denn einerseits bin ich natürlich dafür, dass wir auch Themen rund um Essstörungen, Suizid und selbstverletzendes Verhalten enttabuisieren und entstigmatisieren. Andererseits muss uns eben im Klaren sein, dass wir diverse Effekte auslösen können.“
„Social Media ist kein geschlossener Raum, jeder hat darauf Zugriff“
Ein Safe-Space, also ein Ort an dem Betroffenen von psychischen Erkrankungen keine Diskriminierung oder Ablehnung fürchten müssen, sind Blogs und Social-Media-Profile wie Noras ihrer Meinung nach jedoch nicht per se. „Social Media ist kein geschlossener Raum, jeder hat darauf Zugriff. Geschlossene Facebook-Gruppen sind vielleicht eher ein Safe-Space wie öffentliche Instagram Profile, aber auch dort läufst du Gefahr, dass dir ein Troll reinrutscht. Ich finde es daher auch wichtig selbst darauf zu achten, wie frei ich mich auf meinem Profil zeige.“ Auch ihrer Community sollten sich Noras Meinung nach bewusst sein, dass ihre Kommentare öffentlich sind und reflektieren, wie viel sie von sich preisgeben.
Probier dich aus und höre auf dein Bauchgefühl
Was würde Nora anderen Betroffenen mitgeben, die mit dem Gedanken spielen selbst als Mental-Health-Blogger:in aktiv zu werden und ihr Social-Media-Projekt zu starten? „Ich weiß nicht, ob es da einen pauschalen Ratschlag gibt. Es stellt sich immer die Frage, aus welcher Position heraus sie starten. Was ist ihr Ziel? Wie geht’s ihnen geraden und wen wollen sie erreichen?
Ich denke man sollte sich auf jeden Fall über die Vor-und Nachteile Gedanken machen und nicht aus einer Impulsivität heraus alles offenlegen. Man muss auch nicht gleich von null auf hundert gehen, sondern in Teilschritten. Man kann auch erst mal anonym starten und sich ausprobieren. Ich würde gleichzeitig auch jede Person, die das machen möchte, dazu ermutigen, es auch auszuprobieren, weil es auch sehr selbst stärkend sein kann.“ Auch den Austausch mit anderen betroffenen Content-Creator:innen findet Nora wichtig, um sich Tipps und Ratschläge für den Start zu holen oder eben zwischendurch mal so etwas wie eine „kollegiale Beratung“ zu haben, falls es doch mal schwieriger wird.
„Viele haben auch Angst vor Hate und dazu kann ich aus meiner Position nur sagen, dass das zwar vorkommen kann, bei mir im Vergleich aber sehr minimal gegenüber dem war, was bestärkend war. Auch wenn ich dafür bin, eigene Gefühle ernst zu nehmen und auf die dahinterliegenden Bedürfnisse zu achten, finde ich, dass wir die die Angst vor einer möglichen Ablehnung hinterfragen dürfen. Um meinen Psychiater zu zitieren „Hör auf dein Bauchgefühl, probier dich aus und finde raus, ob es zu dir passt und dir gut tut oder eben nicht.“